Zwei Länder, die seit Generationen in erbittertem Krieg miteinander standen, trennten eine tiefe, blutige Grenze. Im Norden lag das stolze Königreich Valeron, im Süden das eiserne Imperium Lumares. Die Feindschaft zwischen diesen Reichen war alt, angeheizt durch Jahre der Gewalt, Verrat und Rache. Überall sah man die Folgen: Verbrannte Dörfer, verlassene Städte und Soldaten, die in ständiger Furcht und Hass lebten. Niemand konnte sich mehr erinnern, wer den ersten Schlag geführt hatte. Eines Nachts, an der Frontlinie zwischen den beiden Ländern, trafen zwei Menschen aufeinander, deren Begegnung alles verändern sollte. Leona, eine mutige Soldatin aus Valeron, war auf einer Patrouille unterwegs, als sie plötzlich auf ein Geräusch stieß. Sie schlich durch das hohe Gras und entdeckte schließlich einen Mann, der in einem Schützengraben saß – ein Soldat aus Lumares. Ihr erster Impuls war klar: Töten. Dieser Mann war ein Feind, ein Täter, der für die Tode vieler ihrer Kameraden verantwortlich war, auch wenn sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Doch etwas hielt sie zurück. Der Soldat sah nicht aus wie ein gnadenloser Krieger, sondern wie jemand, der erschöpft und verloren war. Er hatte sie bemerkt und hob die Hände, um zu zeigen, dass er unbewaffnet war. „Warte“, sagte er, seine Stimme war rau vor Anstrengung. „Ich will nicht kämpfen.“ Leona zögerte, ihre Hand am Schwertgriff, bereit, ihn dennoch niederzustrecken. „Warum sollte ich dir glauben? Du bist ein Soldat von Lumares. Du hast nur eins im Sinn: mein Land zerstören.“ Der Mann, der sich als Kael vorstellte, schüttelte den Kopf. „Ich habe nichts im Sinn außer dem Wunsch, zu überleben. Glaubst du, ich wollte jemals in diesen Krieg ziehen? Glaubst du, irgendeiner von uns hat das gewollt?“ Seine Augen, dunkel und müde, sahen sie eindringlich an. „Du siehst in mir den Feind, den Täter, der dein Volk ermordet hat. Aber was, wenn ich dir sage, dass ich nichts anderes bin als du – ein Opfer dieses endlosen Hasses?“ Leona blieb reglos. „Opfer?“, fragte sie bitter. „Du hast keine Ahnung, was es heißt, ein Opfer zu sein. Mein Bruder ist gestorben, meine Freunde wurden abgeschlachtet. Dein Imperium hat uns all das genommen. Du bist der Täter.“ Kael senkte den Blick. „Und ich könnte dir das Gleiche sagen. Mein Dorf wurde niedergebrannt, meine Familie fiel deinen Soldaten zum Opfer. Du siehst mich als Täter, ich sehe dich als Täterin. Doch in Wahrheit…“ Er hielt inne, als müsse er seine Worte sorgfältig abwägen. „In Wahrheit sind wir beide nur Schachfiguren in einem Spiel, das größer ist als wir.“ Leona starrte ihn an, und ein Funken von Zweifel begann in ihr zu lodern. War es wirklich so einfach? War er nur ein weiteres Werkzeug dieses endlosen Kreislaufs aus Hass und Vergeltung, genau wie sie? „Aber wir kämpfen doch für Gerechtigkeit“, sagte sie leise, als ob sie mehr sich selbst überzeugen wollte. „Wir müssen unser Volk beschützen.“ „Das sage ich mir auch jeden Tag“, erwiderte Kael. „Aber je länger ich kämpfe, desto mehr frage ich mich, ob es überhaupt eine Gerechtigkeit gibt. Oder ob wir nur die Opfer von Geschichten sind, die uns eingetrichtert wurden, Geschichten, die uns befehlen, den anderen zu töten, ohne zu fragen, warum.“ Leona setzte sich neben ihn in den Schützengraben. Das Kriegsgeräusch war fern, die Nacht still. Für einen Moment fühlte sie sich, als stünde die Zeit still, als wären sie nicht länger Feinde, sondern einfach zwei Menschen, die in einem blutigen Konflikt gefangen waren, den sie nie gewählt hatten. „Was wäre, wenn wir aus diesem Kreislauf ausbrechen könnten?“, fragte Kael plötzlich, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte. „Was, wenn wir aufhören, uns gegenseitig als Täter und Opfer zu sehen, und stattdessen als Menschen?“ Leona schwieg. In ihrem Herzen tobte ein Kampf, der intensiver war als jeder Krieg, den sie je geführt hatte. Jahrelang hatte sie sich gesagt, dass es nur eine Wahrheit gab: Ihr Volk war das Opfer, und das Imperium war der Täter. Doch jetzt, neben diesem Mann, der genauso müde und verletzt war wie sie, begann diese Wahrheit zu bröckeln. „Es wäre zu einfach, dir zu glauben“, sagte sie schließlich, ihre Stimme schwach. „Zu einfach, all den Hass aufzugeben.“ „Ja“, stimmte Kael zu. „Es ist einfacher, weiter zu kämpfen, als sich der Wahrheit zu stellen. Dass wir beide in den Spiegel schauen müssen, den der andere uns vorhält. Dass wir beide die Verantwortung dafür tragen, diesen Krieg fortzuführen.“ Leona wusste, dass er recht hatte. Der wahre Feind war nicht dieser Mann vor ihr. Der wahre Feind war der Hass, den sie beide in ihren Herzen trugen, genährt durch Generationen von Gewalt. Und wenn sie diesen Hass weiterleben ließ, würde der Krieg niemals enden. „Was jetzt?“, fragte sie schließlich, ihre Augen auf den fernen Horizont gerichtet, wo der Krieg weiterging, als ob ihre kleine Begegnung bedeutungslos wäre. Kael atmete tief ein. „Vielleicht beginnt der Frieden mit uns beiden. Vielleicht reicht es, dass wir heute nicht kämpfen.“ Und so saßen sie dort, Seite an Seite, zwei Soldaten aus verfeindeten Nationen, die für einen Augenblick den Kreislauf von Täter und Opfer durchbrachen. Die Nacht war kalt, der Krieg war noch lange nicht vorbei, aber in diesem Moment war der erste Schritt getan.
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