Die Mitte finden
Jeden Tag ziehe ich meine alten Wanderstiefel an und mache mich auf den Weg in den Thüringer Wald. Es ist noch früh, die ersten Sonnenstrahlen brechen durch das dichte Blätterdach und tauchen den Pfad in ein sanftes, goldenes Licht. Hier draußen, zwischen den uralten Bäumen und dem Gesang der Vögel, finde ich die Stille, die mich leitet. Es ist nicht die Art von Stille, die durch das Fehlen von Geräuschen entsteht, sondern eine tiefere Ruhe, die alles durchdringt – als würde der Wald selbst atmen, in seinem eigenen Rhythmus, ganz ohne Eile.
Während ich den moosigen Pfad entlang schreite, beginne ich zu spüren, wie die Gedanken und Bewertungen, die in mir toben, nach und nach verstummen. Hier gibt es keine richtigen oder falschen Schritte, kein oben oder unten – nur das Gehen, nur das Sein. Ich versuche, mich aus dem endlosen Spiel zwischen Licht und Schatten zu lösen, aus dem ewigen Pendeln zwischen Gut und Böse, zwischen rechts und links. Mein Ziel ist es, nichts zu bewerten, sondern einfach zu beobachten.
Nach einiger Zeit höre ich das sanfte Rauschen eines Baches, der sich seinen Weg durch das Tal bahnt. Ich folge dem Geräusch, bis ich an einem kleinen Flusslauf stehe. Das Wasser glitzert im Licht, unbeeindruckt von den unterschiedlichen Ufern, die es umgeben. Die linke Seite des Flussbettes ist wild und überwuchert, das Gras steht hoch, und große Felsen ragen in den Strom hinein. Die rechte Seite ist offener, geordneter, als hätte eine unsichtbare Hand sie sanft gepflegt. Und doch fließt das Wasser unbeirrt in seiner Mitte, als würde es weder links noch rechts Beachtung schenken.
In diesem Moment wird mir klar: Der Bach bewertet nicht. Er nimmt den Weg, der ihm gegeben ist, ohne sich zu entscheiden, ob die linke oder die rechte Seite besser, schöner oder schwieriger ist. Er fließt einfach – in seiner Gegenwart, in seinem Dasein. Er lässt sich nicht von dem Chaos auf der einen Seite oder der Ruhe auf der anderen beeinflussen. Er kennt weder Zögern noch Eile, weder Anhaftung noch Abneigung.
Während ich dem Wasser zusehe, das sich sanft um die Steine windet und durch die verschiedenen Landschaften fließt, wird mir bewusst, dass auch ich so fließen möchte. In der Mitte. Ohne zu urteilen. Ohne ständig zwischen Extremen zu springen. Es ist nicht nötig, zwischen Licht und Schatten zu wählen, zwischen richtig und falsch, zwischen links und rechts. Alles ist Teil des Ganzen, und das Gleichgewicht liegt genau dazwischen – in der Präsenz, im Fluss des Moments.
Ich setze mich an den Rand des Wassers und schließe die Augen. Der Wald umhüllt mich mit seiner uralten Weisheit, und ich lasse die Gedanken weiterziehen wie Wolken am Himmel, ohne an ihnen festzuhalten. Der Bach, die Bäume, die Vögel – sie alle fließen im Gleichklang, und in ihrer Stille finde ich die meine.
Ich weiß, dass der Weg lang ist, aber jeden Tag, den ich durch den Wald wandere, finde ich ein Stück mehr von dieser Mitte in mir selbst. Der Wald gibt mir keine Antworten, aber er zeigt mir, dass ich sie auch nicht brauche. Solange ich gehe, solange ich atme, solange ich bin, finde ich das Gleichgewicht – ganz still, ganz neutral, wie der Bach, der in seiner eigenen Mitte fließt.
Ich bin der Bach der einfach da ist und fließt. Es ist egal wo du bist, deinen persönlichen Jacobs Weg kannst du überall starten.
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